So wirkt sich der Krieg in der Ukraine auf den Sourcing-Markt aus
Die russische Invasion in die Ukraine hat auch Auswirkungen auf den Sourcing-Markt. Denn das Land galt lange als beliebtes Outsourcing-Ziel. Wie es nun weitergeht, sagt Peter Bertschin, Managing Director der Information Services Group (ISG) Switzerland.
Wie sehr beanspruchten europäische Unternehmen die Outsourcing-Dienstleistungen in der Ukraine vor der russischen Invasion?
Peter Bertschin: Die Ukraine ist das osteuropäische Schwergewicht bezüglich IT-Dienstleistungen: Über 50'000 Angestellte und deutlich mehr als 200'000 Freelancer arbeiten für mehr als 5000 Kunden. Insgesamt sind mehr als 1000 IT-Services- und Product-Engineering-Firmen in der Ukraine vertreten. Zudem ist die IT-Wirtschaft des Landes sehr exportorientiert: Etwa 50 Prozent des Umsatzes der ukrainischen IT-Industrie werden mit Unternehmen aus den USA und weitere 35 Prozent mit westeuropäischen Unternehmen erwirtschaftet.
Was für Gründe sprachen für ein Outsourcing in die Ukraine?
Die Ukraine verfügt vor allem über eine grosse Zahl hochqualifizierter IT-Arbeitskräfte. Das Land hat zuletzt stark in die technologische Ausbildung und Qualifizierung investiert, was sie zu einem attraktiven Ziel für Outsourcing gemacht hat, insbesondere für Softwareentwicklung. Darüber hinaus haben führende IT-Dienstleistungsunternehmen in der Ukraine nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 ihren Personalbestand über verschiedene Länder hinweg verteilt. Dieser Ansatz hat in den letzten Jahren zu einem starken Wachstum des ukrainischen Technologiesektors beigetragen, da er das Risiko für Kunden im Ausland deutlich verringert hat.
Wie wichtig ist das Geschäft für die Ukraine?
Der IT-Dienstleistungssektor in der Ukraine erwirtschaftete zuletzt jährliche Exporteinnahmen in Höhe von rund 5,5 Milliarden US-Dollar. Das entspricht etwa 4 Prozent des Bruttoinlandprodukts.
Peter Bertschin, Managing Director der Information Services Group (ISG) Switzerland. (Source: zVg)
Wie hat sich der Angriff auf die Ukraine bereits auf den europäischen Sourcing-Markt ausgewirkt?
Einige IT-Spezialisten haben das Land verlassen, die meisten haben einen sicheren Platz vor Ort gesucht. Dies beeinträchtigt schon die Lieferfähigkeit in einigen Fällen. Auch sind kurzfristige Ressourcen-Verlagerungen aus dem Land heraus bereits schwierig geworden. Im Fall einer Besetzung durch Russland ist davon auszugehen, dass Unternehmen ihre Daten nicht mehr im Land belassen wollen. Dabei ist die Verlagerung von Engineering-Services weitgehend unproblematisch. Doch erbringen etwa 25 Prozent der IT-Unternehmen in der Ukraine auch Datenmanagement-Dienste. Deren Verlagerung gestaltet sich komplexer.
Mit welchen langfristigen Folgen rechnen Sie?
Die meisten grossen Unternehmen verfügen über mehrere, weltweit verteilte Entwicklungszentren und sind deshalb nicht allein auf Teams und Lieferanten in der Ukraine angewiesen. Auch ist die Ukraine nicht das einzige Land, in dem Unternehmen wegen politischer Instabilität das Risiko und den Nutzen von Lieferbeziehungen abwägen müssen. Für die Ukraine selbst können sich die Dinge jedoch ändern. Unternehmen werden möglicherweise zumindest kritische Systeme auslagern, um die Kontrolle darüber zu behalten. Dies wiederum könnte die Lieferkosten erhöhen. Auf jeden Fall steigt die Notwendigkeit, mehr für Cybersicherheit auszugeben.
Was sollten Unternehmen, die ihre IT in die Ukraine ausgelagert haben, jetzt tun?
Jedes Unternehmen mit Geschäftsbeziehungen zur Ukraine sollte zusammen mit seinen dortigen Lieferanten über Business-Continuity-Pläne und eindeutige Notfallmassnahmen verfügen – für den Fall, dass Geschäftsprozesse, -systeme und -dienstleistungen länger unterbrochen sind. Vor allem muss das Risiko vermindert werden, dass kritische Geschäftssysteme, -dienste oder -prozesse nicht mehr verfügbar sind oder beeinträchtigt werden. Unmittelbare Prioritäten für Kunden ukrainischer Dienstleister sind die Priorisierung von Funktionen, Geschäftsprozessen und -fähigkeiten, eine gemeinsame Überprüfung der Business-Continuity-Pläne sowie die Evaluierung kurzfristiger Lieferalternativen. Auf längere Sicht müssen die Business-Continuity-Pläne kontinuierlich auf den Prüfstand gestellt werden. Zu berücksichtigen sind dabei vor allem geopolitische, finanzielle, betriebliche und regulatorische Cybersecurity- und ESG-Faktoren.
Mehr zum Cyberkrieg in der Ukraine können Sie hier im Onlinedossier lesen.
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