Das sagt der Bundesrat zur geplanten EU-Chatkontrolle – und den Folgen für die Schweiz
Der Bundesrat äussert sich zurückhaltend-kritisch zu dem von der EU-Kommission im Mai vorgestellten Vorhaben. Eine solche Massenüberwachung berge eine Reihe von Risiken.
Der Bundesrat hat sich zu der von der EU-Kommission vorgeschlagenen "Chatkontrolle" geäussert. In der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Zürcher Nationalrätin Judith Bellaiche (Grünliberale) weist die Schweizer Landesregierung auf problematische Punkte hin. Watson fasst die wichtigsten Fragen und Antworten zum Thema zusammen.
Was sagt der Bundesrat?
Die Schweizer Landesregierung schreibt, sie habe Kenntnis davon, dass die EU-Kommission am 11. Mai neue EU-Regulierungsvorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Internet vorgeschlagen habe. Der Gesetzesvorschlag nehme die Anbieter in die Pflicht: "Sie müssen Material über sexuellen Kindesmissbrauch in ihren Diensten aufdecken, melden und entfernen. Ausserdem müssen sie das Risiko, dass ihre Dienste missbraucht werden, bewerten und mindern."
Eine allfällige Umsetzung dieses Vorschlags birgt laut Bundesrat eine Reihe von Risiken und könnte "zu einer Schwächung oder gar Aufhebung der Verschlüsselung führen".
Potenzielle Angreifer könnten die dadurch entstandenen technischen Schwachstellen ausnützen oder die Suchmerkmale manipulieren. Ausserdem könnte die Durchsuchung später auf andere Merkmale als die ursprünglich genannten ausgedehnt werden.
Der Vorschlag der EU-Kommission enthalte keine technischen Details und überlasse die technische Umsetzung den Anbietern, die von einem neu zu schaffenden unabhängigen EU-Zentrum unterstützt werden sollen.
"Die technischen und rechtlichen Herausforderungen, die ein solch komplexes System mit sich bringt, sind nicht zu unterschätzen."
Aus der Stellungnahme des Bundesrates. Quelle: parlament.ch
Was ist geplant?
Der Kern des im Mai 2022 vorgestellten Vorhabens der EU-Kommission ist ein flächendeckendes, aus Brüssel gesteuertes "Überwachungssystem". Ein neues "EU-Zentrum gegen Kindesmissbrauch" soll alle bekannten Online-Dienste zwingen können, die gesamte digitale Kommunikation ihrer Nutzerinnen und Nutzer auf illegale Inhalte zu scannen.
Das ist laut Bundesrat nicht absehbar.
Es kann noch nicht beurteilt werden, ob und inwiefern Messengerdienste und andere Anbieter von elektronischen Kommunikationsmitteln in der Schweiz sowie die breite Bevölkerung von diesen Regulierungsvorschriften betroffen sein werden.
Insbesondere die Anbieter von abhörsicheren Messenger-Diensten wie Threema, die auf einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung basieren, sehen die EU-Pläne kritisch.
Wären die Grundrechte tangiert?
Ja. Der Bundesrat verweist in seiner Antwort darauf, dass in der Schweiz die Überwachung von Kommunikationsdiensten "rechtlich streng geregelt" sei. Aufgrund dieser strikten Regelungen sei die Wahrung der Persönlichkeitsrechte der betroffenen Personen in der Schweiz sichergestellt.
Um neu Massen-Überwachungsmassnahmen ohne gerichtliche Genehmigung vornehmen zu können, wären in der Schweiz die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen einschneidend anzupassen.
Gemäss der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Bundesverfassung habe jeder Mensch das Recht auf den Schutz der Privatsphäre, so der Bundesrat.
Die von der EU-Kommission vorgeschlagene präventive, allgemeine und unterschiedslose Durchsuchung von privaten Kommunikationsinhalten nach bestimmten Merkmalen stellt eine neue Art der Verbrechensbekämpfung dar, welche nicht durch das heutige Schweizer Überwachungsrecht abgedeckt ist.
Verfolgt die Schweiz ähnliche Überwachungs-Pläne?
In Bundesbern stellt man dies in Abrede. Die für die Überwachung des Schweizer Fernmeldeverkehrs zuständige Bundesbehörde Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr ÜPF versichert, dass mit einer anstehenden Verordnungs-Revision keine Umgehung oder Schwächung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung verlangt werde.
Der unter anderem von der Piratenpartei kritisierte Vernehmlassungsentwurf (VÜPF) stehe in keinerlei Zusammenhang mit den Plänen der EU-Kommission, so ein Bundesjurist.
In der Schweiz ist das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) unter Bundesrätin Karin Keller-Sutter (FDP) für digitale Überwachungsmassnahmen zuständig.
Wann kommt die EU-Chatkontrolle?
Das ist völlig offen. Der Bundesrat hebt in seiner Antwort hervor, dass noch gar nicht sicher ist, ob die EU-Chatkontrolle überhaupt eingeführt wird. Denn: "Als Nächstes müssen das Europäische Parlament und der Rat über den Vorschlag entscheiden".
Tatsächlich könnte das Vorhaben im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens noch massiv geändert oder gar verworfen werden, hält netzpolitik.org fest.
Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Vorstoss der EU-Kommission auf dem Weg deutlich verändert wird. Das passiert aber nicht von allein. Reaktionen der Öffentlichkeit, Proteste und konstruktive Vorschläge haben einen entscheidenden Einfluss darauf, was aus der Chatkontrolle wird.
Quelle: netzpolitik.org
Wie viel Widerstand gibt's gegen die Chatkontrolle?
Der politische Widerstand in der EU scheint relativ gross. Unter anderem hat sich die deutsche Regierung kritisch geäussert zum Gesetzesentwurf der EU-Kommission.
Ende Mai berichtete das Nachrichtenmagazin "Spiegel", die "Messengerüberwachung dürfte an Deutschland scheitern" und zitierte die zuständige Ministerin Nancy Faeser: "Jede private Nachricht anlasslos zu kontrollieren, halte ich nicht für vereinbar mit unseren Freiheitsrechten." Und inzwischen hat auch die deutsche Familienministerin Lisa Paus dem Vorhaben eine deutliche Abfuhr erteilt, wie es heisst.
Noch sei alles möglich, sogar eine komplette Rücknahme des Gesetzesentwurfs, hatte netzpolitik.org zuvor im Mai konstatiert. Doch dafür brauche es "viel Öffentlichkeit und Widerspruch in verschiedenen europäischen Ländern".
Tatsächlich hatte sich schon kurz nach der offiziellen Bestätigung des umstrittenen Vorhabens ein zivilgesellschaftliches Bündnis namens "Chatkontrolle stoppen" gebildet.
Anfang Juni äusserten sich 73 europäische und internationale Organisationen in einem offenen Brief an die EU-Kommission gegen die Pläne zur Chatkontrolle. Zu den Unterzeichnern gehörte die Digitale Gesellschaft Schweiz (DigiGes).
Nationalrätin Judith Bellaiche rief am Donnerstag via Twitter dazu auf, die hiesige Bevölkerung über die Risiken einer solchen Massenüberwachung aufzuklären und sie für die Problematik zu sensibilisieren. Zudem gelte es, den öffentlichen Druck auf den abwartenden Bundesrat zu erhöhen.